Montag, 18. August 2008
Die persönliche Reliquie 3:








Michels Gebetbuch

schon als ich die treppe hochkam fiel mir die Mesusa ins auge,
die tür von michel, gegenüber meiner zukünftigen. das war mir in diesem moment klar.
warum weiß ich bis heute nicht, ich hatte die wohnung noch nicht angeschaut, doch wollte ich hier wohnen....
kismet, wie wir beide später in unsere bärte kicherten. seiner war so kratzig, daß ich nach dem begrüssungs-oder abschiedsküssen feuerote flecken im gesicht hatte.
innerhalb kürzester zeit waren wir freunde, waren wir intime freunde, gesucht und gefunden – alles was vergangenheit, politik, menschlichkeit und religion betraf verband uns. er, als einer der im lager drancy geborenen wurde; niemals kind nur auf der flucht und am verstecken gewesen; er voller angst, hier, auf der strasse zu fallen und einsam zu sterben.
seine räume quollen über von spielzeug und anderen kleinigkeiten, die er auch immer fleissig an fremde kinder verschenkte; allein sich spielzeug und hübschen tinnef kaufen zu können, war wohl ein nachholbedürfnis. ich lernte wieder koscher zu kochen; mein gatte wurde sein schabbesgoij –
das waren die, die am samstag alle handlungen erledigten, die fromme juden nicht ausführen durften. das höchste lob, ich koche wie seine oma, gab mir das gefühl IHM eines des zuhausefühlens zu schenken.
er stand ständig vor gericht; er mischte sich in jegliche auseinandersetzung in der öffentlichkeit ein. er verabscheute jede form von latenten oder offenen rassismus: auch die, der juden fähig sind. er bekam oft "eins aufs maul" wie er das nannte. seine 1,60m sein gehstock, sein nicht zu übersehender judenstern am hals und seine enorme klappe liessen ihn wie einen giftzwerg erscheinen; aber er hatte nie verbitterung im herz, nur weiches und das wissen, was menschen anderen menschen antun, sollten wir nicht aufpassen.
er brachte mir mein familientabu – die religion – wieder nahe, allein weil er sie so herrlich unkonventionell und frei, doch tiefgläubig lebte.
als journalist wusste er mit worten zu duellieren und zu bezaubern; er war begehrt von den frauen und hatte bis zuletzt eine geliebte. durch ihn lernte ich menschen in aller welt kennen, mit denen ich – die ihnen die todesnachricht übermitteln musste – die aufregendsten und wertvollsten telefonate meines lebens führte. und die traurigsten.
ich hörte seinen atemzug, seinen letzten. malträtierte seinen körper, weil ich es zwar wusste, aber nicht zulassen wollte. es gab keine chance, das erfuhr ich später, sein herz war völlig zerstört.
aber mein versprechen an ihn: da zu sein im augenblick des todes, ein kaddish zu sprechen, für eine jüdische beerdigung zu sorgen, seinen nachlass nicht dem müll anheim fallen zu lassen; kurz: für alles zu sorgen, damit er nicht wortlos verschwindet; das habe ich halten können.
er bekam eine prominentenüberhäufte schöne beerdigung, erhielt nachrufe auch überregional, sein letztes buch wurde wiederaufgelegt, sein nachlass wurde fein aufgeteilt. das haben seine beste freundin und ich alles organisiert.
darauf bin ich etwas stolz.
noch mehr darauf, ihm begegnet zu sein.
so lang ich leben werde, ist er nicht vergessen....
mein freund, michel.

lac

... link (3 Kommentare)   ... comment